Eine der größten Herausforderungen, vor denen Unternehmen heutzutage stehen, ist es abzuschätzen, wie gut das eigene Produktportfolio zukünftige Kundenbedürfnisse bedienen und sich an neue Marktgegebenheiten anpassen kann. Um dies zu schaffen, müssen Unternehmen Annahmen über zukünftige Entwicklungen treffen und diese in ihren Produktstrategien berücksichtigen. Dies ist jedoch umso schwieriger, je dynamischer sich der Zielmarkt der Produkte verändert.
Digitalisierung und der Fortschritt der Technik haben zu einer allgemeinen Beschleunigung der Transformationsprozesse über alle Industrie- und Wirtschaftsbereiche hinweg geführt. Das Resultat: Die aktuelle Schnelligkeit, mit der sich Veränderungen vollziehen, macht es schier unmöglich, Zukunftsentwicklungen mit ausreichender Sicherheit zu prognostizieren, was die Zukunftsplanung für Unternehmen erschwert.
Um in einem von Wandel geprägten Geschäftsumfeld zu bestehen, ist es für Unternehmen unumgänglich einen Weg zu finden, ihre Produkte so zu entwickeln, dass sie flexibel auf verschiedene Zukunftsentwicklungen reagieren können. Ein möglicher Ansatz hierfür ist Modularisierung. Ein langlebiger modularer Baukasten ermöglicht es, mehrere Zukunftsentwicklungen in der Produktstrategie einzuplanen und bei Bedarf neue Module hinzuzufügen. Da die Entwicklung, der Verkauf und die Verwaltung von Modulen und Produktvarianten über den Lebenszyklus Ressourcen benötigen, können Unternehmen nicht eine unendliche Anzahl an Modulen haben oder unzählige Zukunftsszenarien in ihrer Produktplanung berücksichtigen.
Um mittels Modularisierung ein zukunftssicheres Produktportfolio zu entwickeln, muss parallel ein Weg gefunden werden, Zukunftsentwicklungen besser und präziser einzuschätzen. Hierfür hat sich die Szenariotechnik bewährt, eine Methode aus der Zukunftsforschung. Wie Modularisierung und Zukunftsforschung miteinander verknüpft werden können um es Unternehmen zu erleichtern, sich mit einem modularen Baukasten auf eine ungewisse Zukunft einzustellen, zeigt die neueste Studie von Modular Management in Zusammenarbeit mit dem KTH Royal Institute of Technology und dem Eco2 Centre for Vehicle Design.
In diesem Blog-Artikel geben wir Ihnen einen Überblick über die in der Studie entwickelte Methode und zeigen auf, wie Zukunftsszenarien den Aufbau eines zukunftssicheren modularen Baukastens unterstützen können. Dazu stellen wir Ihnen in einem ersten Schritt die Ansätze der Szenariotechnik vor.
Modularisierung ist eine Produktentwicklungsstrategie, die es Unternehmen ermöglicht, sich auf unberechenbare Zukunftsentwicklungen einzustellen. Ein Blick auf das Repertoire aktuell verfügbarer Methoden zeigt jedoch, dass keine Modelle existieren, um die Ansätze der Szenariotechnik in den Modularisierungsprozess zu integrieren. Es gibt keine Ansätze, die es erlauben, modulare Baukästen hinsichtlich ihrer Resilienz gegenüber verschiedenen Zukunftsentwicklungen zu bewerten.
Leseempfehlung: Für detaillierte Informationen rund um das Thema Modularisierung empfehlen wir Ihnen unseren Blog-Artikel “Alles, was Sie zu Modularisierung wissen müssen”.
Bevor wir Ihnen die konkrete Zielsetzung der Studie sowie den Umfang der Untersuchungen vorstellen, wollen wir uns zunächst die Begriffe Zukunftsforschung und Szenariotechnik etwas genauer ansehen.
Bei der Zukunftsforschung handelt es sich um eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Analyse potenzieller Zukunftsentwicklungen befasst. Ihr Ziel besteht darin, auf der Basis von tatsächlich vorhandenem Wissen und fundierten Spekulationen mögliche Zukunftstrends zu prognostizieren. Eine in diesem Feld häufig verwendete Methode ist die Szenariotechnik, die die prognostizierten Zukunftsentwicklungen in Form von plausiblen und in sich logisch konsistenten Szenarien abbildet.
Ein Szenario lässt sich als “die Beschreibung einer zukünftigen Situation und die Entwicklung bzw. Darstellung des Weges, der aus dem Heute in die Zukunft hineinführt” definieren, wie von Reibnitz in “Szenario-Technik - Instrumente für die unternehmerische und persönliche Erfolgsplanung” schreibt. Bildlich lässt sich das Szenario mit einem Trichter vergleichen, der sich vom gegenwärtigen Standpunkt ausgehend öffnet, um die zunehmende Zahl möglicher Zukunftsentwicklungen zu verdeutlichen, wie in der folgenden Abbildung dargestellt (Quelle: “Szenariogestützte Führung industrieller Produktionsunternehmen” von A.Fink).
Auf Basis der verschiedenen ermittelten Szenarien leitet die Szenariotechnik dann potenzielle Konsequenzen ab, die sich beispielsweise für ein Unternehmen ergeben können. Sie findet daher häufig Anwendung in der strategischen Unternehmensplanung. Die Vorgehensweise gliedert sich in verschiedene Phasen, wie die nachfolgende Abbildung zeigt (Quelle: “Szenariomanagement: Planen und Führen mit Szenarien”):
Je nachdem, wie die Szenariotechnik angewandt wird, kann sie unterschiedliche Funktionen im Unternehmen übernehmen. Zum einen können die unterschiedlichen Szenarien als Entscheidungs- und Orientierungshilfe dienen. Zum anderen ermöglicht die Szenariotechnik, Informationen über mögliche Zukunftsentwicklungen für alle Stakeholder einsehbar zu machen und durch eine gezielte Beschäftigung mit den prognostizierten Zukunftsentwicklungen die Weichen für ein zukunftsorientiertes strategisches Handeln zu stellen.
In diesem Kontext ist auch der Wert der Szenariotechnik für die Modularisierung zu sehen. Wie es gelingen kann, die Methoden und Ansätze der Szenariotechnik für das Erstellen eines zukunftssicheren modularen Baukastens zu nutzen, zeigt die neueste Studie von Modular Management.
Die im Folgenden vorgestellte Studie setzt an der Forschungslücke an, die bisher zwischen den Bereichen der Modularisierung und der Zukunftsforschung besteht. Das Studienziel war die Entwicklung einer geeigneten Vorgehensweise, um die Szenariotechnik in den Modularisierungsprozess zu integrieren und es dadurch zu ermöglichen, die Effizienz und Robustheit eines modularen Baukastens hinsichtlich verschiedener Zukunftsentwicklungen zu bewerten.
Im Fokus der Studie steht die Transportindustrie, die ein gutes Beispiel für den gegenwärtig hohen Entwicklungsdruck und die bestehende Forderung nach zukunftsresilienten Lösungen darstellt. Der Transportsektor steht angesichts technologischer Trends wie Digitalisierung und Elektrifizierung in Kombination mit sozioökonomischen Faktoren wie politischen Forderungen nach mehr Nachhaltigkeit unter besonders hohem Druck, resiliente, langlebige und flexible Lösungen für die Zukunft zu entwickeln. Trotz der gegenwärtigen politischen Bestrebungen, den Übergang zu batterieelektrischen Fahrzeugen zu beschleunigen, sind noch viele Fragen offen und die Zukunft des elektrischen Antriebs bleibt weiterhin ungewiss.
In einer vorangegangenen Studie des Integrated Transport Research Lab in Stockholm in Kooperation mit 50 externen Experten der Transportbranche wurden für die Zukunft der Transportindustrie vier verschiedene Szenarien erstellt ( (Quelle: “How will digitalization change freight transportation? Future scenarios for the digitized freight transportation landscape with Sweden as a case study”):
Die vier Zukunftsszenarien wurden in der hier vorgestellte Studie übernommen, um zu untersuchen, wie robust 42 verschiedene Konfigurationen eines modularen Produktportfolios interurban verkehrender Lkw mit alternativem Antrieb hinsichtlich der unterschiedlichen Zukunftsentwicklungen sind. Die Konfigurationen umfassen sowohl batterie- als auch brennstoffzellenbetriebene Lkw und wurden jeweils aus verschiedenen Varianten zentraler Grundmodule wie Motoren und Getrieben verschiedener Größen zusammengesetzt.
Modularisierung kann mittels verschiedener Methoden erfolgen. Die betrachtete Studie basiert auf dem von Modular Management verwendeten Ansatz des sogenannten “Modular Function Deployment®” (MFD®), der ein Vorgehen in fünf Schritten vorschlägt: Nach einer Analyse der Kundenbedarfe werden die Produktfunktionen sowie technische Lösungen identifiziert, auf deren Basis die einzelnen Module und Schnittstellen für die modulare Produktarchitektur definiert werden. Darauf folgt die Planung der einzelnen Varianten und Konfigurationen, bevor in einem abschließend Schritt die komplette Produktarchitektur hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit verifiziert wird.
Leseempfehlung: Eine detaillierte Anleitung, wie Sie in nur 5 Phasen ihren modularen Baukasten entwickeln, lesen Sie in unserem Blog-Artikel “Modularisierung in 5 Schritten mit Modular Function Deployment®”.
Für den Zweck der Studie wurde der erste Schritt (also die Analyse der tatsächlichen Kundenbedarfe) jedoch durch die vier zuvor vorgestellten Zukunftsszenarien ergänzt, aus denen drei zentrale Kundenwerte für die Transportindustrie abgeleitet wurden: Nachhaltigkeit (gemessen an CO2-Bilanz), Effizienz (der angebotenen Transportlösungen) und Gesamtbetriebskosten (auch bekannt als Total Cost of Ownership, TCO) der jeweiligen Produktkonfiguration. Die Gewichtung der einzelnen Faktoren in der Analyse der Gesamtperformance der untersuchten Lkw-Konfigurationen variiert jedoch in Abhängigkeit vom jeweiligen Szenario, wie aus dem nachfolgenden schematischen Überblick der Methode hervorgeht.
In einem nächsten Schritt wurde die Performance der jeweiligen Lkw-Konfigurationen mittels eines eigens für die Studie entwickelten Simulationsmodells nachgestellt und hinsichtlich der drei definierten Kundenanforderungen in den vier Szenarien bewertet, um abschließend eine Gesamtbilanz für die Robustheit der einzelnen Konfigurationen zu ziehen. Auf diese Weise wurden sowohl für die einzelnen Szenarien als auch szenarioübergreifend die performancestärksten Lkw-Konfigurationen und Module identifiziert.
Die Auswertung der Ergebnisse der Studie zeigt, dass die Performance der einzelnen Lkw-Konfigurationen hinsichtlich der drei eingangs definierten Kundenwünsche (Nachhaltigkeit, TCO und Effizienz) je nach Szenario unterschiedlich bewertet werden muss. So erwiesen sich beispielsweise batteriebetriebene Lkw unter den Anforderungen des “Social engineering 2.0”-Szenarios in 90 Prozent der Fälle als bessere Option im Vergleich zu solchen mit Wasserstoffantrieb. Ein Blick auf die Gesamtperformance zeigt, dass sieben der zehn szenarioübergreifend als am effizientesten ermittelten Lkw-Konfigurationen über einen Batterieantrieb verfügen, während die restlichen drei mit Wasserstoffbrennzellen betrieben werden.
Um Unternehmen beim Aufbau eines zukunftssicheren Produktportfolios zu unterstützen, muss Modularisierung auch zukünftige Entwicklungen berücksichtigen. Einen möglichen Ansatz, für den Zielmarkt relevante Zukunftsentwicklungen abzubilden und daraus Orientierungshilfen für die strategische Unternehmensplanung zu entwickeln, bietet die Szenariotechnik. Wie es gelingen kann, die Methoden der Szenariotechnik gezielt in den Modularisierungsprozess zu integrieren und abzuschätzen, wie robust eine modulare Produktarchitektur gegenüber verschiedenen Zukunftsszenarien ist, zeigt die in diesem Blog-Artikel vorgestellte Studie von Modular Management.
Basierend auf der Vorgehensweise des Modular Function Deployment® und vier möglichen, vorab konstruierten Zukunftsszenarien für die Transportindustrie wurden 42 verschiedene Konfigurationen eines modularen Portfolios batterie- und brennstoffzellenbetriebener Lkw auf ihre Performance in unterschiedlichen Zukunftsszenarien bewertet. Zentrale Kriterien waren dabei Nachhaltigkeit, Effizienz und Gesamtbetriebskosten.
Neben der Entwicklung einer systematischen Methode, wie die Ansätze der Szenariotechnik zum Aufbau eines zukunftssicheren modularen Baukastens verwendet werden können, liefert die Studie auch ein in der Praxis einsetzbares Simulationsmodell, das nicht nur zur Bewertung der Performance verschiedener Produktkonfigurationen in verschiedenen potenziellen Zukunftsszenarien, sondern auch zur detaillierten Analyse unterschiedlicher Modulvarianten verwendet werden kann.
Unternehmen, die über detaillierte Erkenntnisse über die zukunftssichersten Konfigurationen sowie kritische und unkritische Module ihres modularen Baukastens verfügen, sind in der Lage, ihre Produktarchitekturen und Plattformen entsprechend anzupassen und sich besser auf eine ungewisse Zukunft vorzubereiten. In der Zukunft könnte das im Rahmen der Studie entwickelte Modell durch weitere Faktoren ergänzt werden, die für die Entscheidungsfindung im Unternehmen eine zentrale Rolle spielen (z.B. finanzielle Aspekte der Umsetzung).
Für einen detaillierten Einblick in die neue Methode sowie die konkreten Ergebnisse der Studie können Sie sich diese hier herunterladen:
Autor
Colin De Kwant
Vice President & Senior Consultant at Modular Management
colin.dekwant@modularmanagement.com
LinkedIn