Alle guten Produkte entstehen aus einem tiefen Verständnis der Kundenbedürfnisse. Für welche Aufgaben benötigen die Kunden das Produkt (Anwendung), was wollen Sie damit erreichen (Problemlösung), wie häufig & intensiv (Leistungsmerkmale) und gibt es trade offs (Präferenzen oder Preis)? Um ein perfektes Produkt zu entwickeln, muss man wissen, wo, wie, wann, warum, wie oft das Produkt benutzt, gereinigt, gewartet und gelagert wird. Es gibt verschiedene Werkzeuge und Methoden, um Kundenbedürfnisse systematisch zu identifizieren und in Form von Kunden-/Marktsegmenten zu strukturieren, um diese in Spezifikationen zu übersetzen, welche dann die benötigten Funktionen, Merkmale und Leistungsniveaus des Produkts enthalten.
Obwohl nur wenige Unternehmen solche Methoden in konsistenter, strukturierter Weise einsetzen, gibt es in allen Unternehmen Wissen bzgl. Kundenbedarf und Kundensegmentierung. Dieses Wissen ist zum größten Teil implizit in Form von persönlicher Erfahrung bei den Mitarbeitern vorhanden, zum Teil aber auch explizit in Dokumenten und Prozessen verankert.
Der Prozess zum Überführen von technischen Spezifikationen hin zu fertigen Konstruktionen ist im Vergleich meist gut dokumentiert und durch entsprechende Prozesse abgedeckt, die sicherstellen, dass Systemspezifikationen auf Komponentenebene zugeordnet werden und dass Komponenten entworfen, berechnet, simuliert und getestet werden, so dass das fertige Gesamtsystem wiederum die ursprünglichen Spezifikationen erfüllt.
Die folgende Abbildung zeigt ein typisches V-Modell, welches den Weg durch die verschiedenen Entwicklungsphasen darstellt. Das Modell wurde hierbei um den Schritt der systematischen Ermittlung der Kundenbedürfnisse und deren Verknüpfung mit den Systemspezifikationen ergänzt.
Wenn die Spezifikationen auf Produkt- und Systemebene gut gegliedert sind, so muss nur anhand dieser Spezifikation verifiziert werden, nicht aber anhand der tatsächlichen Kundenbedürfnisse, die sich deutlich schwerer mit technischen Designs abgleichen lassen.
Ein Beispiel könnte sein, dass der Kunde ein tragbares Produkt benötigt. Es wurde dementsprechend das maximale Gewicht, der maximalen Abstand des Schwerpunkts vom Körper der Person, die das Produkt trägt, die Form und das Material des Griffs und die maximale Höhe von der Produktbasis bis zum Griff spezifiziert. Wenn wir diese Spezifikationen erfüllen, sollte das Produkt tragbar sein.
Ein professioneller Käufer des beschriebenen Produktes, erlangt nach mehreren Käufen wahrscheinlich genug technisches Wissen über das Produkt, um an den vielen Details der technischen Spezifikation interessiert zu sein. Aber für einen einmaligen, unerfahrenen Kunden, sind diese Details wenig hilfreich und schwer zu durchschauen.
Dieser Kunde weiß, dass er ein leicht zu transportierendes Produkt möchte. Dass das Gerät einen mit Tri-Flex-Gummi überzogenen Ergo-Griff hat und der Schwerpunkt beim Tragen 30 cm von dessen Körper entfernt ist, ist für diesen Kunden jedoch keine sofort hilfreiche Information.
Wie kommt es also, dass viele Unternehmen bei der Entwicklung von Produkten, die die Kundenbedürfnisse erfüllen recht erfolgreich, jedoch schlecht darin sind, den Käufer in der Kaufsituation zu leiten? Wie kommt es, dass Unternehmen ihre Kunden mit einer Vielzahl von Spezifikationswerten, technischer Begriffe und interner Marken- und Modellnamen bewerfen? Sollten Unternehmen nicht besser fragen, was Ihre Kunden brauchen und Ihnen dann das passende Produkt aus dem eigenen Sortiment präsentieren?
Die Führung des Kunden durch den Verkaufsprozess anhand von Abfragen bzgl. seiner individuellen Bedürfnisse nennt man geführtes Verkaufen, auf Englisch „Guided Selling“. Im Folgenden möchte ich Ihnen zwei Beispiele für gutes bzw. schlechtes Guided Selling vorstellen.
Beginnen möchte ich mit einer persönlichen Erfahrung, die ich kürzlich beim Kauf eines neuen Staubsaugers für mein Haus gemacht habe. Obwohl ich vor langer Zeit tatsächlich an der Entwicklung einer neuen Staubsaugerplattform mitgewirkt hatte, habe ich heute das meiste davon vergessen. Ich betrachte mich daher als einen gewöhnlichen Staubsaugerkäufer. Ich kenne für mich die Fragen nach dem Wo, Warum und Wie und interessiere mich nicht sehr für spezielle Staubsaugermerkmale oder technische Spezifikationen.
In unserer Familie haben wir zwei Staubsauger. Der erste ist immer "präsent" in der Küche, um leicht zur Hand zu sein. Bei kleinen Arbeiten ist er mehrmals täglich im Einsatz. Das Wichtigste bei diesem Staubsauger ist, dass er gut aussehen muss, denn ein hässliches Produkt "zur Schau gestellt" würde mich verrückt machen. Zweitens muss er leicht und einfach zu bedienen sein. Er braucht keine besonders hohe Leistung, und wir erwarten, dass er nur 3-4 Jahre hält, also sollte er nicht sehr teuer sein. Da er häufig benutzt wird und eine relativ kurze erwartete Lebensdauer hat, sind Umweltaspekte wie Stromverbrauch und Materialauswahl ebenfalls wichtig.
Der zweite Staubsauger, um den es in dieser Geschichte geht, ist ein größeres Modell, das vielleicht jede zweite Woche gebraucht wird. Er wird genutzt, um das ganze Haus zu saugen, aber auch, um gelegentlich "große, schmutzige Arbeiten" zu verrichten. Ebenso wird dieser zweite Staubsauger für die Reinigung der Autos verwendet.
Ich habe ein Modell zerstört, indem ich den Staub aufgesaugt habe, nachdem ich ein Zimmer verputzt hatte. Das letzte Staubsaugermodell ist kaputt gegangen, als die Kinder es benutzten, um ein Sofa im Freien von Blättern zu befreien (es könnten große Spinnen zwischen den Blättern sein, wie sie argumentierten), und nachdem sie die Arbeit beendet hatten, ließen sie den Sauger draußen stehen und es fing an, heftig zu regnen - Game over.
Unsere obersten Prioritäten für den nächsten Staubsauger sind also, dass er robust sein muss, aber gleichzeitig wollen wir nicht, dass er freistehend "präsentiert" wird. Er muss in unseren schmalen Putzschrank passen, möglichst ohne, dass bei jedem Öffnen der Tür die Hälfte herausfällt. Wir haben keine Haustiere im Haus und wir haben keine Allergien, so dass eine normale Reinigungsleistung ausreicht - Bitte keine zusätzlichen rotierenden Bürsten oder Nassreinigungen, die nur verklemmen und kaputt gehen.
Da er nicht sehr häufig benutzt wird und wir erwarten, dass unser nächster Staubsauger mindestens 15-20 Jahre hält, sind Umweltaspekte weniger wichtig, ebenso wie der Preis.
Wir dachten an etwas robustes, einem industriellen Staubsauger sehr ähnlich. Aber er muss eine andere Form haben, um in unserem kleinen Schrank aufbewahrt werden zu können. Wir haben nicht vor, den Schrank für einen Staubsauger umzubauen.
Ich begann also die Suche im Internet. Schnell stellte ich fest, dass die meisten Staubsaugerhersteller einen ähnlichen Ansatz verfolgen. Auf der Startseite des Online-Shops werden prominent eigene technische Funktionen und Innovationen vermarktet, mit denen sich der jeweilige Hersteller von der Konkurrenz differenzieren will. Hier ein Beispiel von der Staubsauger-Produktseite von Philips (Quelle: https://www.philips.de/c-m-ho/staubsauger). Mir, dem Kunden, wird die leistungsstarke Zyklontechnologie mit verbesserter Effizienz zu erhöhter Saugleistung angeboten. Das klingt überzeugend, aber ist dies die passende Lösung entsprechend meiner zuvor beschriebenen Kundenbedürfnisse?
Hier ein weiteres Beispiel, welches repräsentativ für meine Suche war. Im Online-Shop von Bosch-Stausauger (Quelle: https://www.bosch-home.com/de/produktliste/staubsauger) hatte ich die Möglichkeit die verfügbaren Produkte mittels verschiedener Filter einzuschränken, um so eine Auswahl von für meine Bedürfnisse passenden Produkten angezeigt zu bekommen. Die Filtermöglichkeiten umfassten z.B. die Produktserie, besondere technische Merkmale wie den „HighSpin Motor“ bestimmte Sortimentsbereiche wie „Exclusive“. Um mittels dieser Filter das passende Produkt zu finden müsste ich aber erstmal wissen, wie sich meine Bedürfnisse in die Kategorien dieser Filter übersetzen lassen.
Auch wenn sich für ein so einfaches Produkt wie einen Bodenstaubsauger das nötige Wissen zum Auswählen des passenden Modells erarbeiten lässt, so konnte mir keine der von mir besuchten Angebotsseiten einen geführten Verkaufsprozess bieten, der sich an meinen Kundenbedürfnissen orientierte.
Schließlich gibt es einen Hersteller, nur einen von vielleicht 15, die wir uns angesehen haben, welcher einen anderen Ansatz verfolgt. Hier gibt es einen Kaufberater, der meine Kundenbedürfnisse abfragt und anschließend ein passendes Gerät vorschlägt. Hier ist ein solcher Abfrageschritt (Quelle: https://www.miele.de/haushalt/miele-kaufberater-staubsauger-2232.htm) zu sehen, in dem der Kaufberater fragt, ob ich ein kompaktes Gerät oder integriertes Zubehör bevorzuge.
Am Ende präsentierte man mir die beste Übereinstimmung. Dennoch habe ich laut gelacht. Denn es war nicht das Produkt, welches ich für meine Anforderungen erwartet hatte. Ein Staubsauger mit einem starken Motor, kompakt aber der konkrete Anwendungsfall passte eher für Besitzer von Hunden und Katzen, schließlich mit Turbobürste und Geruchsfilter.
Dieser Anbieter hatte mit Abstand zwar das beste Front-end von allen Marken, die ich mir angesehen habe, dennoch wurde ich neugierig, warum ich keine auf meine Bedürfnisse angepasste Konfiguration des Produktes sah. Dieser Anbieter wendet Guided Selling in einer sehr netten und einfach zu bedienenden Weise an, leider führte der Prozess aber nicht zu einem Produkt, das unseren Bedürfnissen entsprach.
Vielleicht hat der Anbieter eine strategische Entscheidung getroffen, um einige spezifische Segmente und Anwendungen anzusprechen? Das könnte gut sein, es ist oft nicht profitabel für alle denkbaren Kunden alle möglichen Produktvarianten bereit zu stellen.
Dennoch war ich neugierig, also ging ich zurück und änderte systematisch die Kundenbedürfnisse im Kaufberater – ohne großen Einfluss auf das Ergebnis. Mir scheint es, dass hinter dem schönen Front-End ein sehr schmales und starres Produktsortiment steht, welches wenige Basismodelle umfasst, die jeweils in geringem Umfang mit Optionen angepasst werden können.
Es handelte sich hier scheinbar um einen geführten Verkaufsprozess im Sinne des Guided Selling, hinter dem aber ein Produktsortiment war, dass sich nicht entsprechend der Kundenbedürfnisse konfigurieren lässt. Es zeigt sich so deutlich, dass für erfolgreiche Produktkonfiguration, ob in Form von Guided Selling oder nicht, es einer modularen konfigurierbaren Produktarchitektur im Hintergrund bedarf, die entsprechend der Kundenbedürfnisse in Module zerlegt wurde.
Leseempfehlung: Sie interessieren sich dafür, wie Sie eine solche modulare Architektur entwickeln können? In unserem Artikel zum Thema stellen wir Ihnen 3 Methoden zur Entwicklung der modularen Struktur vor.
Wie schon zuvor beschrieben ist es immer wieder überraschend, dass es Unternehmen gelingt, Produkte anzubieten, die die Bedürfnisse ihrer Kunden zu vollster Zufriedenheit erfüllen, dass es aber zugleich noch immer schwer scheint, den Verkaufsprozess auch entsprechend dieser Kundenbedürfnisse zu strukturieren. Aus meinen subjektiven Erfahrungen als gewöhnlicher Staubsaugerkäufer haben sich folgende Ratschläge für das Produktmanagement ergeben:
In den vorherigen Beispielen habe ich gezeigt, dass es für erfolgreiches Verkaufen nach dem Prinzip des Guided Selling einerseits gute Kenntnisse der Kundenbedürfnisse braucht und andererseits ein flexibles konfigurierbares Produkt, welches diese Kundenbedürfnisse bedienen kann. Ich möchte Ihnen nun hier zum Vergleich ein Beispiel zeigen, bei dem diese Aspekte für ein hoch-komplexes Produkt sehr gut umgesetzt sind.
Der Lkw-Hersteller Scania verwendet in großen Teilen seines Konfigurators Guided Selling. Für die ersten Auswahlschritte bzgl. der Achskonfiguration und Fahrerhaus ist noch das Fachwissen des Kunden gefragt, um im richtigen Grundmodell im Konfigurator einzusteigen, danach wird dem Kunden die Auswahl zwischen der Konfiguration per Assistent und manueller Konfiguration gelassen.
In der manuellen Konfiguration wird dem Kunden die Möglichkeit gegeben, die technischen Spezifikationen aller Bereiches des LKW im Detail anzupassen, so kann er z.B. auswählen, ob der Rahmen des Fahrzeugs für die Anbringung einer ACL-Zentralschmieranlage vorbereitet ist. Eine so detaillierte technische Konfiguration eignet sich nur für die Experten unter den Kunden, die das Produkt und alle seine technischen Elemente genau kennen. Der Screenshot (Quelle: https://configurator.scania.com/index.aspx?etel_market=5145&etel_language=5241) zeigt einen Ausschnitt aus der technischen Detailkonfiguration des Konfigurators, hier der Nebenabtrieb des Getriebes.
Der Konfigurationsassistent hingegen eignet sich für die Kunden, die zwar Ihre Bedürfnisse kennen aber keine Experten für die Technik sind. Der Kunde wird durch eine überschaubare Anzahl von Fragen bzgl. der Einsatzbedingungen des Fahrzeugs durch den Konfigurationsprozess geführt. Die Grafik (Quelle: https://configurator.scania.com/index.aspx?etel_market=5145&etel_language=5241) zeigt hier einige dieser Fragen bzgl. Kilometerleistung, Einsatzbedingungen und Maximalgewicht:
Ergebnis dieses Guided Selling Prozess mit gezielten Fragen zum Einsatz des Fahrzeugs ist ein Vorschlag für eine passende Fahrzeugkonfiguration. Bei dieser hat der Kunde nun wie zuvor die Möglichkeit einzelne technische Merkmale nach Bedarf abzuändern.
Der Verkaufsprozess von Scania zeigt uns, wie es gelingen kann ein hoch komplexes technisches Produkt in einem geführten Verkaufsprozess entlang der Kundenbedürfnisse zu konfigurieren. Basis des Erfolgs hierbei ist einerseits die genaue Kenntnis der Kundenbedürfnisse, die in einer systematischen Marktsegmentierung erarbeitet wurden, und andererseits eine modulare Produktarchitektur, die es erlaubt das Produkt entsprechend dieser Bedürfnisse zu konfigurieren.
Wie wir in den Beispielen gesehen haben bedarf es beider Aspekte: (I) Eines starken Front-End in Form eines Vertriebskonfigurators, welcher den Kunden anhand seiner Bedürfnisse zur passenden Produktkonfiguration führt und (II) eines wirklich konfigurierbaren Produktes, dessen modularer Aufbau es ermöglicht für jede Kombination verschiedener Kundenbedürfnisse eine passgenaue technische Lösung bereitzustellen.
Es gibt grundsätzlich zwei Wege, die sie beschreiten können, um die beschriebene Erfolgskombination für Ihr Unternehmen umzusetzen:
Egal welchen dieser beiden Wege Sie beschreiten wollen, Sie benötigten detaillierte Kenntnis der Bedürfnisse Ihrer Kunden – um diese einerseits für den Verkaufsprozess zu nutzen und um andererseits ihr Produkt entsprechend konfigurierbar zu machen. In unserer Anleitung zur kundenbedarfsorientierten Marktsegmentierung stellen wir Ihnen eine systematische Methode vor, mit der Sie Kundenbedürfnisse identifizieren und anschließend Ihren Markt entsprechend in Segmente aufteilen können:
Senior Consultant
ingo.bogemann@modularmanagement.com
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