Viele Unternehmen stehen vor der Herausforderung zunehmend diverser Produktportfolios. Die Entwicklung von Produkten, die individuell an die Wünsche der Kunden angepasst sind, in Kombination mit steigender Produktkomplexität durch die Kombination von Mechanik, Elektronik und Software mit digitalisierten produktnahen Services, führt zur einer immer weiter ansteigenden internen Komplexität, die Unternehmen handhaben müssen. Wir können uns die Komplexität als einen Berg von technischen Lösungen vorstellen, der immer weiter wächst.
Diese Komplexität lässt sich mit chronischem Schmerz vergleichen. Das Problem dauert lange an, wird tendenziell schlimmer und es lässt sich keine klare Ursache des Schmerzes identifizieren, durch deren Beseitigung auch der Schmerz aufhören würde.
Um den chronischen Schmerz zu lindern, versuchen Unternehmen durch Maßnahmen kurzfristig Komplexität zu reduzieren. Dadurch werden typischerweise Produktportfolios eingeschränkt und wenig nachgefragte Produktvarianten aus dem Angebot gestrichen.
Dieser Ansatz ermöglicht aber nur geringe Kostenersparnisse und geht mit Umsatzverlusten einher. Es handelt sich also um keine Lösung, die die Ursachen des Schmerzes beseitigt und ein nachhaltiges Wachstum ermöglicht. Vielmehr behandelt dieser Ansatz nur kurzfristig die Symptome der Komplexität, die schon bald wieder zunehmen und die nächste Rosskur nötig werden lässt.
In diesem Blogartikel möchten wir Ihnen einen Paradigmenwechsel zur Beseitigung chronischer Komplexitätsschmerzen vorstellen – Komplexität optimieren, anstatt immer nur Symptome zu behandeln und mit bester Absicht trotzdem an der falschen Stelle zu standardisieren. Wir zeigen Ihnen, wie es gelingt, mit einem Baukastensystem orientiert am Marktbedarf Komplexität nachhaltig zu optimieren und gleichzeitig den Umsatz zu steigern.
Auch wenn die Ursachen chronischer Komplexität divers sind, lassen sich doch die schmerzhaften Symptome klar benennen.
Zusätzliche Kosten für Lagerhaltung & Inventar
Die Vielfalt an technischen Lösungen verursacht einen proportionalen Anstieg der Kosten für die Lagerhaltung dieser Lösungen. Dies betrifft sowohl die Lagerhaltung für die Produktion von Produkten, als auch die Kosten, die durch das Vorhalten von Ersatzteilen verursacht werden. Es entstehen Kosten in Form von gebundenem Kapital sowie Kosten für die Lager-Infrastruktur.
Ein weiteres Problem ergibt sich durch die diversen Produktportfolios. Einzelne Produktvarianten werden nur sehr selten nachgefragt, was zu einer Alterung der Lagerbestände und schlussendlich zu Obsoleszenz von Bauteilen führt.
Qualitätskosten
Ein diverses Produktportfolio auf der Basis von vielen unterschiedlichen technischen Lösungen führt zu erhöhten Komplexitätskosten, da einzelne Produkte und Baugruppen nur selten produziert und montiert werden, so dass es kaum zu kontinuierlichen Verbesserungseffekten kommt. Zusätzlich haben neue Bauteile oder Software in der Regel auch die typischen Kinderkrankheiten. Dies führt in Summe sowohl zu erhöhten Garantiekosten also auch zu höheren Kosten für Nacharbeit. Die Nacharbeitskosten sind hierbei häufig in indirekten Kostenstellen verborgen und werden einfach als unvermeidlich akzeptiert.
Verlängerte Vorlaufzeiten
Sowohl in der Entwicklung als auch in der Produktion führt Komplexität zu verlängerten Vorlaufzeiten. Dies reduziert nicht nur den Umsatz, der realisiert werden könnte, sondern führt auch dazu, dass Kunden an die Konkurrenz verloren gehen.
Ineffiziente und überlastete Entwicklung
Mit zunehmender Komplexität sinkt die Geschwindigkeit, in der die F&E-Abteilung neue Produkte entwickelt. Ein großer Teil der Kapazitäten wird darauf verwendet, das bestehende Portfolio am Leben zu halten:
Dies führt in der Summe dazu, dass 80 % der Kapazitäten darauf verwendet werden, mit dem aktuellen Bestand Schritt zu halten und nur 20 % für Innovationen bleiben. Diese geringe Kapazität reicht dann meist nur noch dazu, neue Produkte in Form von Derivaten existierender Lösungen zu entwickeln; für wirkliche Innovationen reicht die Kapazität nicht aus.
Mehr Umsatz führt nicht zu besseren Profitmargen
Da die Einführung neuer Produkte gleichzeitig mit steigender Komplexität einhergeht, steigen Fix- oder indirekte Kosten proportional bis überproportional. Größere Produktionsvolumen führen so nicht zu geringeren Material- und Arbeitskosten. Skaleneffekte können nicht realisiert werden.
So wie chronische Rückenschmerzen häufig das Ergebnis eines jahrelangen Haltungsfehlers beim Sitzen am Schreibtischarbeitsplatz sind, so ist auch chronische Komplexität das Ergebnis eines lang andauernden Fehlverhaltens und kann mehrere Ursachen haben. Wir wollen hier einige typische Ursachen vorstellen, die zu einem Komplexitätsproblem führen können.
Zukauf und Zusammenfassung von Unternehmensbereichen
Durch den Zukauf von Unternehmensbereichen werden neue Märkte erschlossen und der Marktanteil vergrößert. Dies führt aber nicht automatisch zu Skaleneffekten. Während es im Overhead gelingt, geringe Synergien z.B. in Vertrieb oder der Unternehmensführung zu realisieren, so sind die Produktportfolios häufig überlappend und technische Lösungen nicht 1:1 kompatibel, so dass mit einem Zukauf die Komplexität sogar überproportional zum Umsatz ansteigen kann.
Nischenfokus
Die Entwicklung und der Vertrieb von Produkten für spezialisierte Nischenprodukte können ein sehr lukratives Geschäft sein. Da die Marktgröße in diesen Nischen aber begrenzt ist, müssen weitere Nischen erschlossen werden, um weiter zu wachsen. Im Ergebnis führt dies zu divergierenden Produktportfolios für verschiedene Nischen, die ähnliche Produkte enthalten, ohne dass Synergien realisiert werden. Auch Overheadkosten werden mit der Anzahl der Nischenmärkte vervielfacht.
Projektorientierte Produktentwicklung, getrieben durch Vertrieb und Entwicklung
Die projektorientierte Entwicklung ist insbesondere im mittelständischen Maschinenbau ein typisches Vorgehen. Neue Produktvarianten werden durch individuelle Kundenanfragen initiiert und gehen mit einem dedizierten Entwicklungsprojekt zur Umsetzung der Anfrage einher. Umsatz und Komplexität steigen proportional. Da Produkte häufig lange im Feld bleiben und gepflegt werden müssen, ist die Entwicklungsabteilung mehr und mehr damit beschäftigt, die Vergangenheit zu pflegen.
Entwicklung von „low-cost“-Produktfamilien
Insbesondere Unternehmen in Hochlohnländern, die in ihren Märkten traditionell eine führende Rolle eingenommen haben, sehen sich zunehmend nachrückenden Konkurrenten gegenüber, die Produkte zu deutlich günstigeren Preisen anbieten. Eine typische Reaktion der Unternehmensführung ist die Entwicklung von „low cost“-Produktfamilien, die in Fernost produziert werden. Das Ergebnis sind Produktfamilien, die zwar funktional dem Rest des Portfolios ähnlich sind, aber technisch komplett unterschiedlich gelöst sind und entsprechend separat über den Lebenszyklus gepflegt werden.
Um die zuvor beschriebenen Symptome der stetig zunehmenden Komplexität zu behandeln, suchen Unternehmen nach Maßnahmen, um kurzfristig Komplexität zu reduzieren. Bei der Beschreibung der Ursachen der Komplexität haben wir gesehen, dass diese durch die Einführung immer neuer Produktvarianten zur Stabilisierung oder Steigerung des Umsatzes entsteht. Daraus erzielte Erlöse sollten sich verbessern. Eine naheliegende Maßnahme ist daher die Reduktion von Produktvarianten.
Der Ansatz ist, den sogenannten „long tail“ in der Umsatzverteilung zu reduzieren: Beim Vergleich des Produktionsvolumens aller Produktvarianten zeigt sich, dass es eine geringe Anzahl von Produkten mit hohem Produktionsvolumen, eine breite Auswahl von Produkten mit mittlerem Produktionsvolumen und eine Vielzahl von Produkten mit nur geringem Produktionsvolumen gibt.
Die Hoffnung, wenn Unternehmen diesen „long tail“ reduzieren, ist, dass viele Produkte gestrichen werden können, ohne dass dies zu großen Umsatzverlusten führt. Es besteht ja die Möglichkeit, dass die Kunden, die zuvor Exotenprodukte gekauft haben, auch eine Lösung im reduzierten Portfolio finden.
In der Praxis zeigt sich, dass die Effekte dieses Vorgehens hinter den Erwartungen zurückbleiben und nicht langfristig wirken. Auch wenn wenig nachgefragte Produkte aus dem Angebot gestrichen werden, führt dies zu einem Umsatzrückgang. Falls strategisch wichtige Produkte betroffen sind, kann sich dies auch auf den Umsatz des verbleibenden Produktportfolios auswirken.
Auch zeigt sich, dass sich durch die Streichung von Produktvarianten nicht kurzfristig alle assoziierten Kosten einsparen lassen und dass die Overhead-Kosten gleich bleiben, sodass der Overhead-Anteil sogar steigt.
Ein typischer Referenzwert für die Komplexitätsreduktion durch die Streichung von Produktvarianten ist eine Kosteneinsparung von 2 % bei Reduktion der Produktvielfalt um 5 %. Hier wird deutlich, dass diese Maßnahme vielleicht kurzfristig für Linderung der Komplexitätssymptome sorgen kann, aber kein Rezept für langfristigen Unternehmenserfolg ist.
Leseempfehlung: Einschränkung von Produktportfolios können notwendig und sinnvoll im Rahmen von Unternehmensrestrukturierungen sein. Lesen Sie hier, wie die Komplexitätsreduktion durch Produktabkündigung gelingen kann.
Ein alternativer Ansatz setzt bei der internen technischen Komplexität an. Ziel ist es Bauteile und Baugruppen, die nur in geringer Stückzahl hergestellt und verbaut werden, aus der Palette technischer Lösungen zu entfernen. Dies kann durch Komponentenstandardisierung gelingen. Die folgende Grafik zeigt, dass sich bei der Betrachtung der Verteilung von Produktionsvolumen der Bauteilvarianten ein Bild ergibt, das der Verteilung der Produktvarianten ähnlich ist.
Meist basieren die diversen Produktportfolios auf stark integrierten Produktarchitekturen, um gute Performance bei gleichzeitig optimierten Kosten für jede individuelle Produktvariante zu ermöglichen. Dies führt aber zu einem Problem für die Komponentenstandardisierung: Bauteil- und Baugruppenvarianten, die in geringer Stückzahl hergestellt werden, lassen sich nicht einfach standardisieren oder ersetzen. Die Entfernung dieser Varianten aus der Palette der technischen Lösungen geht daher direkt mit der Streichung der assoziierten Produktvarianten aus dem angebotenen Portfolio einher.
Die Streichung technischer Lösungen führt also direkt zu dem zuvor beschriebenen Vorgehen der Einschränkung des angebotenen Produktportfolios einhergehend mit Umsatzverlusten.
Die Alternative zur Symptombehandlung durch kurzfristige, aber nicht nachhaltige Komplexitätsreduktion ist die Optimierung der Komplexität. Optimale Komplexität muss sich hierbei an den Bedürfnissen des Marktes orientieren.
Kunden fordern individuelle Produkte und Unternehmen müssen Wege finden, diese individuellen Bedürfnisse zu befriedigen, wie schon 1993 Joe Pine in seinem berühmten Werk zu Mass Customization beschrieb. Wenn Unternehmen es nicht schaffen, Produkte anzubieten, die den individuellen Bedürfnissen ihrer Kunden entsprechen, werden sie diese Kunden über kurz oder lang an die Konkurrenz verlieren.
Da Unternehmen also mit der externen Komplexität des Marktes leben müssen, ist die verbleibende Lösung die Optimierung der internen Komplexität. Dies gelingt nur, wenn die Bedürfnisse des Marktes richtig verstanden sind.
Bei Modular Management ordnen wir hierfür Komplexität anhand drei strategischer Achsen:
Die Komplexität in Form von Variantenvielfalt der technischen Lösungen und Produktionsvolumen einzelner Teilenummern verteilt sich auf diese drei strategischen Achsen. Wir sehen, dass der „long tail“ notwendig ist, um Kundennähe zu ermöglichen. Es ist also keine Lösung, einfach Varianten zu streichen, es bedarf einer Optimierung der Komplexität.
Der Schlüssel zur optimalen Komplexität ist die Strukturierung der Produktarchitektur in Form eines modularen Baukastensystems. Bei einer modularen Produktarchitektur werden nicht Bauteile, sondern Schnittstellen standardisiert. Dies ermöglicht einen hohen Grad an Kombinierbarkeit, sodass mit einer optimierten Vielfalt an Modulvarianten eine Vielzahl an Produktvarianten kombiniert werden können. Dadurch gelingt eine weitgehende Entkopplung des Zusammenhangs notwendiger Produktvielfalt (Economies of scope) und dafür benötigte Komponentenvielfalt (Economies of scale). Dadurch erreichen Sie eine fürs Unternehmen optimale Komplexität.
Leseempfehlung: Wenn Sie mehr darüber erfahren wollen, wie ein modulares System funktioniert und was die Vorteile gegenüber einer konventionellen Produktarchitektur sind, empfehlen wir Ihnen unseren Blogartikel „Klassische Produktentwicklung VS Modulare Produktentwicklung“
Mit dem modularen Baukastensystem gelingt die Komplexitätsoptimierung anstelle stumpfer Reduktion von Produktvarianten. Hierbei werden nicht einfach die Bauteile mit dem geringsten Produktionsvolumen gestrichen, sondern über das gesamte Spektrum hinweg technische Varianz dort reduziert, wo sie nicht vom Markt gefordert wird.
Der Effekt ist signifikant. Durch Komplexitätsoptimierung auf Basis eines modularen Baukastensystems lässt sich die Anzahl antechnischen Lösungen (Varianz bei Bauteilen, Software und Services) typischerweise um 30% - 80% reduzieren bei gleichzeitiger Vergrößerung des angebotenen Produktportfolios um 50% - 100%.
Viele Unternehmen leiden unter großer und stetig steigender Komplexität. Häufig sind die Reaktionen hierauf wiederkehrehrende Initiativen zu Komplexitätsreduktion. Hierbei handelt es sich aber lediglich um eine Behandlung der Komplexitätssymptome, die nur kurzfristig Linderung verschafft.
Im Rahmen dieses Artikels haben wir eine nachhaltige Alternative vorgestellt: Komplexitätsoptimierung mithilfe eines modularen Baukastensystems. Dieses Vorgehen ermöglicht es Ihnen, ihr angebotenes Portfolio zu vergrößern und gleichzeitig die unternehmensinterne Komplexität zu optimieren.
Die Komplexitätsoptimierung mit modularen Produktarchitekturen erlaubt es wegzukommen von der reinen Symptombehandlung der Komplexitätsschmerzen hin zu nachhaltig optimierter Komplexität. Umsatzwachstum bei gleichzeitig verbesserten Erlösen wird möglich.
Modulare Komplexitätsoptimierung ermöglicht es, die Ziele in den Dimensionen Kundenähe, Produktführerschaft und Operative Exzellenz gleichzeitig zu erreichen. Die Konfigurierbarkeit der Produkte ermöglicht es, einfacher Produktvarianten anzubieten, die genau zu den Bedürfnissen und Präferenzen Ihrer Kunden passen.
Zudem lassen sich Innovationen, Upgrades und Updates einfacher in die Produkte einbringen, so dass Entwicklungs- und Lieferzeiten signifikant sinken können.
Diese Effekte sind erheblich und führen zu zusätzlichen Umsätzen für das verbesserte modulare Produkt. Die finanziellen Effekte setzen sich also aus Kostenersparnissen durch optimierte Komplexität auf der einen und zusätzlichen Umsätzen auf der anderen Seite zusammen.
Wenn die in diesem Artikel beschriebenen Herausforderungen für Sie relevant sind, empfehlen wir Ihnen das ausführliche Webinar mit unserem Kollegen Luther Johnson von Modular Management vom 20.4.21. Sie können sich die Aufzeichnung hier ansehen:
Senior Consultant
ingo.bogemann@modularmanagement.com
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