Die meisten Unternehmen würden von sich selbst sagen wir sind schon „Modular“ aufgestellt. Die Suche nach Bausteinen, die wiederverwendet und über mehrere Produkte hinweg gemeinsam genutzt werden können, ist in den meisten Unternehmen eine gängige Aktivität, um Skalierung und Effizienz in der Produktentwicklung, der gesamten Lieferkette – (supply chain/operations) und dem Vertrieb zu erreichen.
Modularität ermöglicht Skaleneffekte, da Module in vielen verschiedenen Produktvarianten des Sortiments eingesetzt werden können. Auch die verlängerte Lebensdauer modularer Produktarchitekturen unterstützt Skaleneffekte – wenn Änderungen am Produkt notwendig werden sind diese lediglich auf einzelne Module begrenzt.
Doch nur wenige Unternehmen nutzen einen systematischen Ansatz, um Module produktübergreifend wiederzuverwenden. Häufig wird davon ausgegangen, dass auch ein nicht-systematischer ad-hoc-Ansatz zu den Vorteilen führt, die mit einem modularen Baukasten assoziiert werden. Es zeigt sich jedoch, dass ohne eine gezielte Steuerung der Produktarchitektur und ohne deren Abstimmung auf die strategischen Unternehmensziele das Investment in eine Modularisierung häufig nicht zu den gewünschten Ergebnissen führt.
Finden Sie mit uns in diesem Beitrag heraus, wie Sie den modularen Reifegrad Ihrer Produktarchitektur einschätzen können.
Hierzu nutzen wir das so genannte Produktarchitektur-Reife Modell. Es bietet ein Verständnis davon, wo Sie derzeit stehen und wo Sie langfristig hinkommen wollen. Mit diesem Modell können Sie den Reifegrad und die Leistungsfähigkeit Ihrer Produktarchitektur in Bezug auf Dimensionen wie Time-to-Market, Komplexitätskosten oder Skaleneffekte einschätzen.
Das Produktarchitektur-Reife Modell basiert auf den Dimensionen Umfang und Zeit und deckt die funktionsübergreifenden Dimensionen Markt, Produktentwicklung und Lieferkette ab.
Umfang bezieht sich auf die Marktabdeckung durch ein Produkt oder einer Produktplattform. Ein Standardprodukt, auch wenn es vielseitig ist, hat einen engen, dedizierten Marktumfang. Je mehr Möglichkeiten Sie haben, Teile auszutauschen und Optionen hinzuzufügen/zu entfernen, desto größer ist der Umfang. Ein größerer Markt kann durch mehr wählbare Leistungswerte, Funktionen und Merkmale bedient werden.
Zeit bezieht sich auf die profitable Lebensdauer eines Produkts oder einer Produktplattform. Die Situation, dass ein Produkt oder eine Plattform nicht abgekündigt wird, obwohl diese unprofitabel sind findet sich in vielen Branchen wieder.
In einem unserer früheren Artikel „Was zeichnet ein gutes modulares System aus?“ haben wir diese beiden Dimensionen in einer vereinfachten Formel zur Berechnung der Profitabilität eines modularen Baukastens vorgestellt. Wir können diesen Ansatz erweitern, indem wir die Einflussgröße Zeit als die Lebensdauer des modularen Systems und den Umfang als die geschäftliche Reichweite verstehen. Die Profitabilität des modularen Systems ergibt sich dann unter Berücksichtigung notwendiger Aufwände aus der folgenden Gleichung.
Um Profitabilität zu steigern, sollten die Aufwände vergleichsweise gering gehalten werden.
Es gelingt den Aufwand im Verhältnis zum Wert eines Produktportfolios gering zu halten, indem das Portfolio auf Basis einer den gesamten Geschäftsprozess berücksichtigenden modularen Produktarchitektur entwickelt, produziert und vertrieben wird.
Im Rahmen von Modularisierung und modularen Baukästen fällt auch häufig der Begriff Plattform. Hierbei ist zu beachten, dass eine Plattformentwicklung eine die Modularisierung ergänzende Strategie ist. So kann ein modularer Baukasten über eine Plattform verfügen, muss es aber nicht. Andersherum bedeutet die Tatsache, dass ein Produkt auf Basis einer Plattform entwickelt und gefertigt wird noch nicht, dass dieses Produkt modular gestaltet ist.
Um Verwechslung und Verwirrung vorzubeugen wollen wir hier eine einfache und geläufige Definition des Plattformbegriffs vorstellen.
Als Plattform bezeichnet man ein Set von Komponenten, Prozessen, Wissen, Personen und/oder Beziehungen, die von mehreren Produkten verwendet werden. Auf Basis dieser Plattform werden verschiedene Produktvarianten abgeleitet.
Der Unterschied zwischen dem Plattformansatz und dem modularen Ansatz lässt sich anhand der Reise des Volkswagen-Konzerns von engen Plattformen zum heutigen modularen Ansatz veranschaulichen. Der Volkswagenkonzern hat auf Basis einer Plattform erste Synergien innerhalb einer Fahrzeugklasse geschaffen. Kommend von individuellen Fahrzeugtypen führte Volkswagen in den späten 90er Jahren das Konzept „Plattform-Hut“ ein. Auf dessen Grundlage entwickelte die Volkswagengruppe die modulare Baukastenstrategie immer weiter.
Während in den 2010er Jahren nur bedingt einzelne Module zwischen nun verschiedenen Fahrzeugklassen geteilt wurden, sind heute alle Fahrzeuggruppen ein modulares System und teilen eine gemeinsame Moduldefinition, mit diversen Modulvarianten für Antriebe, Karosserie und Verkleidung oder der Software und Elektronik.
Leseempfehlung: Sie interessieren sich dafür, wie Sie eine solche modulare Architektur entwickeln können? In diesem Artikel stellen wir Ihnen 3 Methoden zur Entwicklung einer modularen Produktarchitektur vor.
Basierend auf den beiden Dimensionen Umfang und Lebensdauer und mit einem entsprechenden Verständnis von einer Plattform haben wir bei Modular Management sechs verschiedene Reifegrade für die Produktarchitektur identifiziert. Sie sind idealisiert und wir wissen, dass es in der Realität oft nicht nur schwarz und weiß gibt. Ein Produkt könnte zum Beispiel eine Kombination aus den Stufen II und V sein. Trotz dieser Herausforderung funktioniert das Modell, um sowohl die aktuelle Position als auch den gewünschten Zielzustand zu identifizieren.
Stufe I - Projektorientiert
Es gibt keine im engeren Sinn entwickelte Produkte. Jeder Kundenauftrag ist eine zugeschnittene und kundenspezifische Lieferung, mit Designs und Teilen, die nicht gezielt wiederverwendet werden. Eine gewisse Wiederverwendung kann durch Kopieren aus vorangegangenen Projekten erreicht werden. Da diese Wiederverwendung jedoch größtenteils opportunistisch ist, ist es schwierig, die Vorteile der Wiederverwendbarkeit außerhalb der Entwicklung zu nutzen.
Stufe II - Eigenständige Produkte
Jedes Produkt ist ein eigenes Silo mit eigenem Design. Zu jedem Zeitpunkt hat jedes Produkt eine vorgegebene Spezifikation, und die Stückliste ist ohne austauschbare Teile festgelegt. Gemeinsamkeiten und Wiederverwendung zwischen verschiedenen Produkten sind gering. Produkte haben eine kurze Lebensdauer bei hohen Stückzahlen (Volumen) und erfahren nur kleine Facelifts, keine größeren Verbesserungen. Neue Produkte werden autark entwickelt und alte Produkte leben häufig parallel weiter.
Stufe III - Plattformen, kleiner Umfang
Jede Plattform ist ein eigenes Silo mit eigener Architektur. Innerhalb jeder Plattform gibt es eine begrenzte Anzahl von Auswahlmöglichkeiten für Kunden, um die Spezifikation an ihre Bedürfnisse anzupassen. In der Stückliste sind nur wenige Teile austauschbar. Die Möglichkeit der Wiederwendung zwischen verschiedenen Plattformen ist gering. Plattformen haben eine kurze Lebensdauer bei hohen Stückzahlen (Volumen), und sie erfahren nur kleine Facelifts, keine größeren Verbesserungen. Neue Plattformen werden autark (starr) entwickelt und alte Plattformen leben häufig parallel weiter.
Stufe IV -Plattformen, mittlerer Größe
Jede Plattform zielt auf einen größeren Markt mit mehreren Auswahlmöglichkeiten für Kunden und mehr austauschbaren Teilen in der Stückliste. Jede Plattform kann auch eine lange Lebensdauer haben sowie ständig aktualisiert und verbessert werden. Über die Lebensdauer der Plattform kommen Entwicklungen hinzu, die die Plattformen auseinanderreißen, dadurch in mehrere Unterplattformen zerfallen, womit die ursprüngliche Austauschbarkeit und Wiederverwendbarkeit zwischen ihnen fehlt. Die Gemeinsamkeiten nehmen mit der Zeit ab und das ganze System nähert sich wieder Stufe III an.
Stufe V -Plattformen mittlerer Größe mit transversalen Modulen
Ähnlich wie Stufe IV, jetzt allerdings werden einige Schlüsselsysteme oder -komponenten plattformübergreifend (transversal) gemeinsam genutzt. Oft entsteht dies aus einer reinen "technischen Notwendigkeit", die Systeme oder Komponenten gemeinsam zu nutzen, die in der Entwicklung und Herstellung einfach zu teuer oder ressourcenintensiv sind, so dass sie transversal geteilt werden müssen.
Stufe VI - Umfassende modulare Produktarchitektur
Auf der höchsten Reifegradstufe ist die Austauschbarkeit und Gemeinsamkeit über eine breite Palette von Produkten beabsichtigt, die einen sehr breiten bzw. ausgreifenden Markt adressieren. Gleichzeitig werden die internen Synergien und Skaleneffekte in F&E und Supply Chain maximiert. Bei größeren Entwicklungen oder Facelifts wird das gesamte Modulsystem aktualisiert, um das gleiche Maß an Austauschbarkeit und Gemeinsamkeit über alle Produkte hinweg zu erhalten. Das Auseinanderdriften in separate "Sub-Plattformen" wird vermieden. Dieser Reifegrad stellt sehr hohe Anforderungen nicht nur an die Produktarchitektur, sondern auch an die Organisation und Arbeitsweise. Die Steuerung (Governance) der Architektur muss über alle Produkte hinweg streng kontrolliert werden.
Um den gewünschten Zielzustand zu definieren, sollten Sie diese Aspekte bei Ihren Überlegungen mit einbeziehen:
Zur Ermittlung Ihres aktuellen Reifegrades der (modularen) Produktarchitektur, reicht es nicht aus, nur die Entwicklung zu untersuchen. Sie müssen eine funktionsübergreifende Bewertung sicherstellen, die Vertrieb, Marketing, F&E, Service und gesamte Lieferkette (supply chain/operations) umfasst.
Wie genau eine Bewertung im Sinne des Produktarchitektur-Reife-Modells ausfallen kann, verdeutlicht die folgende Abbildung. Mit den bereits vorgestellten Dimensionen und Stufen des Reifegrades für modulare Baukästen könnte eine Bewertung im Sinne des Produktarchitektur-Reife-Modells folgendermaßen ausfallen.
Um bei unserem vorherigen Beispiel der Automobilindustrie zu bleiben und noch einmal sicher zu stellen, dass wir hier nicht nur schwarz-und-weiß bzw. klare Trennlinien sehen, würde die Bewertung bei Stufe 2 und 3 für den Volkswagenkonzern der 90er Jahre einsteigen. Über die 2000er und darüber hinaus gelangte der Konzern zu Stufe 6, mit einer umfassenden modularen Produktarchitektur über das gesamte Produktsortiment des Konzerns. Die Modularisierung ermöglicht jetzt einheitliche Konstruktionsprinzipien und damit verbunden die Standardisierung von Produktionsprozessen.
Modularisierung mit einem ganzheitlichen Ansatz ist eine langfristige Investition in eine modulare Produktarchitektur, die Kundenbedarfe und Unternehmensstrategien gezielt berücksichtigt und eine lange Lebensdauer sowie durchgängige Konfigurier- und Skalierbarkeit ermöglicht. Mit Hilfe des Produktarchitektur-Reife-Modells schaffen Sie es eine erste Abschätzung zu treffen, welche Verbesserungen realistisch sind und wie weit der Weg zu einem ganzheitlichen modularen Baukasten ist. Die besten Startvoraussetzungen für ein erfolgreiches Modularisierungsprojekt bietet eine belastbare Abschätzung der Gesamtpotenziale eines modularen Baukastens.
Wenn Sie sich dafür interessieren, in welchen Bereichen Sie in Ihrem Unternehmen am meisten von einer modularen Produktportfolio-Strategie profitieren würden, empfehlen wir Ihnen unsere Evaluierung der Potenziale eines modularen Baukastens für Ihren Unternehmens- und Produktkontext:
Alex Ginsburg
Principal, Manager & Partner
alex.ginsburg@modularmanagement.com
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