Die Bauindustrie tut sich traditionell schwer bei den kontinuierlichen Produktivitätssteigerungen anderer Industrien mitzuhalten. Es wurden schon verschiedene Phasen von Industrialisierung durchlaufen, die aber nur bedingt Effizienzsteigerungen mit sich gebracht haben, und so sind die Arbeitsweisen in der Bauindustrie auch heute noch vergleichsweise traditionell. Wie die Grafik zeigt, kämpft die Bauindustrie mit der Herausforderung, in Zeiten steigender Nachfrage, die Produktivität schnell zu erhöhen.
Ein Beispiel für einen nur teilweise erfolgreichen Industrialisierungsschritt ist der Fertigteilbau oder auch Fertigbau. Die hohen Erwartungen in Bezug auf Kostenreduktionen können häufig nur teilweise eingelöst werden und kommen mit einem inhärenten Risiko, dass Prozessoptimierung auf Kosten der Produktqualität und Kundenzufriedenheit realisiert wird. Verbesserte Bau- und Produktionsmethoden auf der Baustelle, stellen das Prinzip der Maximierung der zentralisierten Fertigteilproduktion noch weiter in Frage.
Klar ist aber, in einer Zeit großen Bedarfs suchen Unternehmen der Bauindustrie nach neuen Wegen, ihre Produktivität zu erhöhen.
Verschiedenen Stakeholdern gerecht werden durch modulares Bauen
Die Anforderungen der verschiedenen Interessenvertreter (Stakeholder) sind vielfältig und werden beeinflusst durch Lokalität, klimatische Unterschiede, unterschiedliche gesetzliche Rahmenbedingungen oder lokale Traditionen – und natürlich unterscheiden sich die Bedürfnisse der verschiedenen Stakeholdergruppen, wie z.B. der Bauunternehmer, Immobilienbesitzer, Projektentwickler oder der Endnutzer.
Ein bewährter Ansatz, mit dieser Vielfalt an Anforderungen umzugehen, ist die Erstellung eines Produktportfolios auf Basis einer modularen Produktarchitektur – ein sogenannter modularer Baukasten. Bei Modularisierung in der Bauindustrie sprechen wir von modularem Bauen. Verschiedene Modulvarianten können ausgetauscht und neu angeordnet werden, da sie mittels standardisierter Schnittstellen miteinander kombinierbar werden. Das Ergebnis ist ein modulares Bausystem, das so konfiguriert werden kann, dass es die Anforderungen und Bedarfe des Marktes erfüllt und die resultierenden Bauprodukte den Bedürfnissen der verschiedenen Stakeholder gerecht werden.
Modulares Bauen bietet Vorteile sowohl für die Projektentwickler und Bauunternehmen als auch für die Endkunden. Es ermöglicht erhöhte Produktivität, verkürzte Vorlaufzeiten und verbesserte Bauqualität mit deutlichem Einfluss auf reduzierte Gesamtkosten. In diesem Artikel wollen wir betrachten, wie Unternehmen der Wandel von traditioneller handwerklicher Fertigung hin zu konfigurierbarer industrieller Bauweise gelingen kann.
Leseempfehlung: Ein modulares Bausystem kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Kundenbedürfnisse in der Produktarchitektur verankert sind. Lesen Sie hier, wie Sie Ihren Markt systematisch anhand des Kundenbedarfs segmentieren, inkl. Step-by-Step Anleitung.
Fokus auf den Kundenwert
Bevor sich ein Unternehmen auf den Weg macht, eine konfigurierbare modulare Produktarchitektur zu entwickeln, ist es essenziell, klare Ziele und eine zugehörige Planung für den modularen Baukasten zu definieren. Diese Ziele sind individuell für jedes Unternehmen und dessen Organisation im jeweiligen Geschäftsumfeld zu definieren.
So ist für manche Unternehmen die Verfügbarkeit an qualifiziertem Personal in der Konstruktion die größte Herausforderung und dementsprechend die Wiederverwendung konstruktiver Lösung und die Ermöglichung von CAD-Automation ein Hauptziel für das modulare Bausystem. Für andere Unternehmen hingegen liegt der Fokus auf Einsparungen bei direkten Kosten, Qualitätsverbesserungen, Mehrwert für die Kunden oder dem Erreichen weitgehender Digitalisierung. Der Erfolg einer modularen Produktarchitektur und damit der Unternehmenserfolg hängt an der Definition der richtigen Ziele und deren Verknüpfung mit messbaren Kennzahlen (KPIs).
Die Wahl des richtigen Umfangs ist ein weiterer Schlüssel zum Erfolg eines modularen Baukastens. Bei einem sehr großen und diversen Umfang ist es schwer, die Produkte in einer gemeinsamen Architektur zu vereinen. Wird der Umfang zu gering gewählt, stellen sich nicht die erwarteten Effekte bezüglich Produktivität, Effizienz und Kosten ein. Ein Beispiel: Ein standardisiertes Küchenlayout ermöglicht den verstärkten Einsatz von Fertigbauteilen. Wird eine solche Standardisierung jedoch in einem hochpreisigen Segment angestrebt, in dem ein hoher Anspruch an die Individualität des Küchenlayouts und der Küchenausstattung besteht, führt dies zu einer Variantenexplosion bei den Fertigbauteilen.
Der Wert einer modularen Produktarchitektur steigt mit deren Lebensdauer. Es ist deshalb wichtig, dass modulare Systeme über die Zeit hin kontinuierlich weiterentwickelt werden können. In der projektorientierten Bauindustrie ist es traditionell schwer, Feedbackschleifen zu schließen und Produkte kontinuierlich zu verbessern. Es besteht stattdessen die Gefahr, dass das Rad jedes Mal neu erfunden wird. Der Bau von Immobilien ist inhärent projektorientiert, die Implementierung einer vorgeschalteten modularen Architektur mit zentralisierter Steuerung ist aber trotzdem möglich.
Wie in der Grafik dargestellt, funktioniert das modulare Bausystem dabei als Ordnungsschema. Es strukturiert den Zugriff auf die am Markt verfügbaren Lösungen. Die einzelnen Projekte bedienen sich dann aus dem modularen Bausystem und konfigurieren projektspezifische Lösungen mit den passenden Modulen.
Fallgruben auf dem Weg zum modularen Bauen
Die Potenziale eines modularen Ansatzes sind immens, eine falsche Herangehensweise bei der Implementierung von modularem Bauen kann jedoch zu großen Problemen führen. Im Folgenden zeigen wir Ihnen einige Beispiele für immer wieder auftretende und vermeidbare Fehler.
- Organisatorische Verankerung: Auch wenn die Schnittstellen richtig definiert wurden und die Modulvarianten entsprechend der Marktanforderungen definiert sind, wird es schwer, die Potenziale zu heben, wenn die IT-Systeme, die Zulieferkette und die Unternehmenskultur nicht entsprechend der neuen Art zu entwickeln und zu bauen, angepasst wurden.
- Unternehmensstrategie & Kundenbedürfnisse: Wenn die Unternehmensstrategie und Kundenbedürfnisse nicht durchgehend in der modularen Struktur verankert wurde, tut sich eine schwer zu überbrückende Lücke zwischen Vision und Implementierung auf. Das Ergebnis ist ein technisch orientierter Baukasten, der aber nicht geeignet ist, Unternehmensziele zu erreichen und dem Markt nicht die gewünschte Produktvielfalt bietet.
- Umfang & Flexibilität: Die Erfahrung hat gezeigt, dass es Unternehmen schwerfällt, sicherzustellen, dass bei der Entwicklung eines modularen Bausystems die nötige Flexibilität für die unterschiedlichen Anforderungen verschiedener Projekte vorgesehen wird. Das führt in der Konsequenz dazu, dass Projekte den Rahmen des modularen Baukastens verlassen und dieser sukzessive an Relevanz verliert.
Wenn solche vermeidbaren Fehler nicht von Anfang an auf dem Radar des Modularisierungsprojekts sind, wird dieses wahrscheinlich scheitern und die investierte Zeit und damit verbundenen Gelder gehen verloren. Wenn Unternehmen daran scheitern, eine modulare Produktarchitektur einzuführen, dauert es häufig lange, bis ein erneuter Anlauf gewagt wird. Deshalb empfehlen wir Unternehmen, für die Modularisierung Neuland ist, unbedingt, sich Unterstützung für die Umsetzung zu holen.
Modulares Bauen VS Fertigbauweise
Fälschlicherweise wird modulares Bauen häufig mit Fertigbau oder Fertigteilbau gleichgesetzt. Dabei ist die Wahl, ob die Fertigung auf der Baustelle oder in zentralisierten Fertigungsstätten statt findet, eine Frage der Supply-Chain-Strategie und erstmal unabhängig davon, ob ein modulares Bausystem verwendet wird. Es sei hier außerdem erwähnt, dass zentralisierte Vorfertigung von Bauteilen nicht immer zur erhofften Produktivitätssteigerung führt. Marktanforderungen und die Forderung nach Individualisierung spät im Fertigungsprozess kann außerdem die Rückverlagerung von Produktionsschritten auf die Baustelle erforderlich machen.
Die Flexibilität des Bausystems muss zur Leistungsfähigkeit der Bauprozesse und den Bedarfen der Kunden passen. So ist es sinnvoll, Individualisierung, die Kundenwert generiert in spätere Produktionsschritte am Bau zu verlagern, während immer gleiche Elemente für verbesserte Effizienz standardisiert vorgefertigt werden.
Ziel der modularen Produktarchitektur ist es, Konfiguration zu ermöglichen. Im ersten Schritt wird die grundlegende Technologie gewählt, z.B. wird ein standardisiertes Rahmensystem eingesetzt oder es gibt mehrere Systeme entsprechend verschiedener Anforderungen. Der zweite Schritt ist die Vorentwicklung von Modulen, die in verschiedenen Projekten wiederverwendet werden sollen und können. Hierbei gilt: Je größer der Anteil an vorentwickelten Lösungen ist, umso weniger wird projektspezifische Konstruktionstätigkeit benötigt. Der Anteil an vorentwickelten Lösungen an einer gesamten Projektkonfiguration schwankt entsprechend der unterschiedlichen Marktanforderungen der einzelnen Projekte.
Nach der Definition des modularen Bausystems und der Festlegung von Modulen, die über viele Bauprojekte hinweg wiederverwendet werden sollen, kann der passende Grad an Vorfertigung für die einzelnen Elemente des modularen Bausystems festgelegt werden. So wird sichergestellt, dass das System als Ganzes maximale Effizienzgewinne erzielt aber zugleich die nötige Flexibilität behält, um die diversen Marktanforderungen abzudecken.
Leseempfehlung: Lesen Sie hier, wie Sie methodisch Ihre modulare Produktarchitektur definieren, inkl. Step-by-Step Anleitung zur Moduldefinition.
Die Illustration zeigt eine Matrix, in die alle Elemente des modularen Bausystems eingeordnet werden können. Der Rahmen wird aufgespannt zwischen Bauteilen, die hochstandardisiert sind (vorentwickelt und vorgefertigt) zu Bauteilen die projektspezifisch konstruiert und handwerklich auf der Baustelle hergestellt werden.
Erste Schritte auf dem Weg zum modularen Bauen
Die Bauindustrie bietet einige der komplexesten und umfangreichsten Produkte aller Industrien, von großen Einzelgebäuden hin zu riesigen Infrastrukturprojekten. Die erste und wichtigste Entscheidung ist deshalb die Festlegung des Umfangs des modularen Baukastens.
Ein komplexes Gebäude besteht aus einer Vielzahl von Sub-Systemen in vielschichtigen Hierarchien. Die Abhängigkeiten zwischen den Sub-Systemen und Unterschiede in der Ausführung zwischen verschiedenen Projekten sind Treiber für die Komplexität der Konstruktion, des Baus und der Instandhaltung von Gebäuden.
Auch wenn das finale Ziel ist, alle oder einen großen Teil der Sub-Systeme eines Gebäudes mit einem modularen Bausystem abzudecken, empfiehlt es sich trotzdem, Schritt für Schritt vorzugehen. Anstatt parallel anzufangen, alle Sub-Systeme zu modularisieren, sollte im ersten Schritt analysiert werden, welches Sub-System das größte Potential im Verhältnis zum nötigen Investment bietet. So gelingt es, die Entwicklung einer modularen Produktarchitektur für modulares Bauen als einen Weg zu planen, bei dem die Konfigurierbarkeit des Gesamtsystems und die sich ergebenden zeitlichen und monetären Vorteile Schritt für Schritt realisiert werden. Der erste Schritt wird in dem Bereich gemacht, wo der größte ROI zu erwarten ist.
Leseempfehlung: Für ein erfolgreiches Modularisierungsprojekt bedarf es der Unterstützung im Unternehmen. Hierfür müssen die Potenziale vorab quantifiziert werden. Lesen Sie hier, wie Sie den finanziellen Impact von Modularisierung quantifizieren können.
Disruption: Risiko oder Chance?
Neue Marktteilnehmer können Märkte und Unternehmen erschüttern und zuvor etablierte Konkurrenten zurücklassen, wenn es diesen nicht gelingt, sich an die veränderten Umstände anzupassen. Für die Bauindustrie hat die Wahrscheinlichkeit für solche disruptiven Marktveränderungen in den letzten Jahren zugenommen.
Dezentralisierte Produktion, komplexe Genehmigungsverfahren, Anfälligkeit gegenüber makroökonomischen Schwankungen und Fachkräftemangel sind nur einige der Herausforderungen. Was einmal als effizient galt ist schnell nicht mehr gut genug. Die spezifischen Rahmenbedingungen der Bauindustrie haben bislang dafür gesorgt, dass diese hinter den kontinuierlichen Verbesserungen in Produktivität, Technologie und Organisationsformen anderer Industrien zurückblieb.
Unternehmen, denen es gelingt, zum richtigen Zeitpunkt in neue Technologien und Arbeitsweisen zu investieren, werden sich deutlich von der traditionell arbeitenden Konkurrenz absetzen können. Der Schlüssel zum Erfolg wird es sein, Flexibilität und Effizienz zu kombinieren. Mit der Entwicklung einer konfigurierbaren modularen Produktarchitektur gelingt der Wandel hin zum modularem Bauen, welches den Spagat zwischen den diversen Stakeholder-Anforderungen, Produktivitätssteigerung und den vielseitigen Kundenanforderungen auf verschiedenen Märkten möglich macht.
Die Bauindustrie verändert sich mit zunehmender Geschwindigkeit. Konfigurierbare, modulare Bausysteme, die den sich verändernden Märkten angepasst werden können, sind die Voraussetzung für nachhaltigen Erfolg. Die Wahl, vor der ein jedes Unternehmen nun steht: Sich anpassen in einem Rahmen, den die Konkurrenz vorgibt oder selbst die disruptive Kraft der Innovation sein.
Sie fragen sich, wie positive Effekte einer modularen Produktarchitektur für Ihr Unternehmen aussehen können? In diesem Video zeigen wir Ihnen, wie in der Potentialanalyse vorab Effekte durch Kosteneinsparungen ung Umsatzwachstum abgeschätzt werden:
Ingo Bögemann
Senior Consultant
ingo.bogemann@modularmanagement.com
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