Produktarchitektur als System plattformübergreifender modularer Baukästen

Tobias Martin & Ingo Bögemann

In diesem Blogartikel wollen wir Ihnen an einem Beispiel aus der Automobilindustrie zeigen, wie mehrere modulare Baukästen zu einem plattformübergreifenden mehrstufigen modularen System vereint werden können. Dem Unternehmen in diesem Beispiel, der Volkswagengruppe, gelang es so, noch größere Teile des Produktportfolios in einer gemeinsamen modularen Produktarchitektur zusammenzufassen und so die Rentabilität des Baukastens noch einmal erheblich zu steigern.

Modularisierung Anleitung

Der „gewöhnliche“ modulare Baukasten

Im Rahmen der modularen Produktentwicklung werden die Produktvarianten, meist einer Produktfamilie, mit Hilfe eines passenden modularen Baukastens abgedeckt. Die zugrunde liegende modulare Produktarchitektur ist entsprechend der Kundenbedürfnisse sowie der strategischen Unternehmensziele aufgebaut.

Durch die Anwendung modularer Gestaltungsprinzipien (siehe Abbildung) werden die Abhängigkeiten zwischen Modulen reduziert und dann Module auf der Grundlage der strategischen Ziele des gesamten Produktportfolios definiert, wobei ein Optimum zwischen notwendiger Komplexität und erwünschter Flexibilität identifiziert wird.

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Leseempfehlung: Erfahren Sie hier mehr über die Gestaltungsprinzipien für modulare Baukästen inkl. Definition des Modularitätsbegriffs

Im Rahmen der modularen Produktentwicklung in Unternehmen werden so häufig mehrere verschiedene modulare Baukästen für verschiedene Bereiche des Produktportfolios, z.B. für verschiedene Produktfamilien, entwickelt. Auf diese Weise wird die Anzahl von Anforderungen und Produktvarianten, die ein Baukasten abdecken muss, begrenzt, was die Entwicklung vereinfacht.

Der negative Effekt hierbei ist jedoch, dass Module und Funktionen, die über verschiedene Baukästen gemeinsam betrachtet werden könnten, individuell gelöst werden und so Synergiepotentiale verloren gehen. Es kommt zu einer Suboptimierung innerhalb der einzelnen modularen Systeme anstelle einer übergreifenden Optimierung. Auf diese Weise bleiben Möglichkeiten zur Effizienzverbesserung in der Lieferkette und dem Sekundärmarkt ungenutzt.

Modularität auf dem nächsten Level

Der Automobilindustrie kommt eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung modularer Systeme für komplexe und variantenreiche Produkte zu. Die zugrunde liegende Produktarchitektur hat sich hierbei in mehreren Evolutionsstufen weiterentwickelt – von einer einfachen Gleichteilstrategie über Plattformbauweise hin zu modularen Baukästen die zu plattformübergreifenden modularen Systemen geworden sind, welche sich aus mehreren modularen Baukästen auf Systemebene zusammensetzen.

Führend bei dieser Weiterentwicklung der Produktarchitektur ist der Volkswagen-Konzern (VW), der größte Automobilhersteller der Welt. VW hat die Grenzen von Produktplattformen und Architektur konsequent verschoben und damit die Richtung für die gesamte Branche vorgegeben.

Die Automobilindustrie wird oft als leuchtendes Beispiel für die Vorteile, die mit modularen Baukastensystemen verbunden sind. Auch wenn die hoch entwickelten Ansätze und Strukturen, welche in dieser Branche genutzt werden, um modulare Systeme zu entwickeln und zu verwalten, für die meisten Unternehmen aus dem mittelständischen Maschinenbau zu viel des Guten wären, so lohnt es sich doch, zu verstehen worin der Erfolg der Produktarchitektur von VW begründet liegt.

Leseempfehlung: Nicht nur in der Automobilbranche werden Entwicklungszyklen immer kürzer, lesen Sie hier, welchen EInfluss das auf die Produktentwicklung hat.

Geschichte des modularen Baukastens von VW

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In den frühen 1990er Jahren leistete VW Pionierarbeit bei der Nutzung gemeinsamer Plattformen in der Automobilindustrie. VW hatte Mitte der 1960er Jahre AUDI, 1986 SEAT und 1991 SKODA übernommen und stellte mehr als 20 verschiedene Automodelle her.

Durch die gemeinsame Nutzung der Basisplattform durch mehrere Modelle und Marken konnten Skaleneffekte bei Komponenten wie Antriebsstrang, Innenausstattung und Fahrgestell erzielt werden. (Abbildung: 1991 VW Golf, Quelle)

Im Laufe der Zeit wurde dieser Ansatz jedoch kritisiert, weil er die Fähigkeit zur Anpassung des Produkts an unterschiedliche Markenimages einschränkte, da die Standardisierung in Teilen zu weit getrieben wurde. Dies schadete einerseits dem Status der Premiummarken und führte andererseits zu erhöhten Kosten für Bauteile im Niedrigpreissegment. Modularisierung-VW-03-1

Die zweite Generation des VW-Plattformkonzepts kam Mitte der 2000er Jahre. Es gab einen klaren Wechsel von einfacher Standardisierung hin zu Modularisierung. So wurden breitere Plattformen mit erhöhten Skaleneffekten ermöglicht.

Alle Audi-Serienfahrzeuge wurden nun auf der gleichen Plattform gebaut - ein Traum für die Lieferkette. Es wurden enorme Effizienzsteigerungen mit verringerter Anzahl von Montagelinien und einer größeren Hebelwirkung im Einkauf ermöglicht. (Abbildung: 2003 VW Golf, Quelle)

Modularisierung-VW-12-1Ein Jahrzehnt später, Mitte 2010, platzte die Bombe: Der Modulare Quer-Baukasten, kurz MQB. Mit der schrittweisen Erweiterung des MQB baute VW nun Autos praktisch jeder Größe auf Basis derselben Produktplattform. Ende 2020 umfasst die MQB-Plattform mehr als 80% des VW-Produktionsvolumens. (Abbildung: 2012 VW Golf , Quelle)

Plattformübergreifende modulare Systeme

Das Beispiel VW zeigt uns, wie eine mehrstufige, plattformübergreifende modulare Produktarchitektur aufgebaut sein kann.

Wie in der Abbildung verallgemeinert dargestellt wird, sind die Bausteine der Produktarchitektur modulare Baukästen, die auf Fahrzeugsystemebene definiert sind. So setzt sich eine Produktplattform, z.B. eine bestimmte Fahrzeugkategorie, aus mehreren Baukästen auf Systemebene zusammen. Diese modularen Baukästen wiederum lassen sich zu großen Teilen über mehrere Produktplattformen hinweg nutzen. So ermöglicht hier Modularisierung Synergien sowohl zwischen den Produktvarianten innerhalb einer Produktplattform als auch zwischen mehreren Produktplattformen.

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Bis heute hat VW mehrere modulare Produktplattformen entwickelt. Neben dem bereits genannten MQB gibt es auch den Modularen Längsbaukasten (MLB) für Längsmotoren und den Modularen Mittelmotorbaukasten MMB für Mittelmotorfahrzeuge. Für elektrische Antriebsstränge wurden der Modularer E-Antriebs-Baukasten (MEB) und die Premium Platform Electronic (PPE) entwickelt.

Einer der Gründe für die inzwischen große Anzahl an verschiedenen modularen Produktplattformen ist das diverse Angebot an Premium- und Hochleistungsfahrzeugen der Marken Porsche und Audi als Teil des VW Konzerns. Ein Großteil des VW-Volumens wird aber weiterhin durch den MQB abgedeckt.

Besonders hervorzuheben ist, dass die Plattformen in einer übergreifenden modularen Produktarchitektur zusammengefasst sind. Dies bedeutet, dass sich die verschiedenen Plattformen aus einem gemeinsamen Umfang zugrunde liegender modularer Systembaukästen bedienen.

Um dieses Konzept zu erläutern, betrachten wir die elektrische MEB-Plattform etwas genauer (Bildquelle):

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Gemeinsam genutzte modulare Systembaukästen

Der MEB ist die erste vollelektrische Plattform des VW-Konzerns und ist vollständig um den elektrischen Antriebsstrang herum aufgebaut. Eines der wichtigsten und auch größten Teile jeder batteriebetriebenen elektrischen Plattform ist die Batterie. Die Batterie des MEB ist als eigenständiges modulares System angelegt, so dass diese mit anderen modularen Plattformen geteilt werden kann, z.B. der PPE für Premium-Elektrofahrzeuge.

Für den Erfolg des modularen Baukastens für das Batteriesystems ist dessen Konfigurierbarkeit und Flexibilität entscheidend. Der Aufbau des Batteriesystems muss individuell dem verfügbaren Bauraum und dem Energiebedarf angepasst werden, so dass das Batteriesystems als Ganzes für jeden Fahrzeugtyp unterschiedlich ist. Der modulare Aufbau ermöglicht es aber, dass durch eine gemeinsame Hochspannungsschnittstelle und eine vereinheitlichte Aufbaulogik Komponenten des Systems in vielen Fahrzeugvarianten wiederverwendet werden können. (Bildquelle)

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Viele der Module innerhalb des Systems können für eine enorme Volumenkonsolidierung standardisiert werden. Dazu gehören zum Beispiel das Zellenmodul, der Zell-Management-Controller und der Hochspannungsverbinder. Dies schafft einen enormen Nutzen beim Aufbau der neuen Batterie-Lieferkette. VW hat sogar angedeutet, dass sie ihre Elektroplattform an andere Autohersteller verkaufen wollen, um die konsolidierten Volumina weiter auszubauen und die Investitionen in Entwicklung und Lieferkette noch rentabler zu machen.

Geteilte modulare Baukästen

Die Logik des übergreifend genutzten Batteriebaukasten lässt sich nun übergreifend anwenden. Es ergibt sich so eine modulare Produktarchitektur, bei der verschiedene Produktplattformen modulare Baukästen auf Systemebene gemeinsam nutzen:

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Leseempfehlung: Die Motivation für immer ganzheitlichere modulare Architekturen ist die Erschließung noch größerer Synergiepotenziale. Aber wie groß sind die finanziellen Potenziale eines modularen Baukastens für Ihr Unternehmen? Lesen Sie in unserem Artikel "Kosten senken, Umsatz steigern: Die finanziellen Potenziale der Modularisierung", wie sie die Potenziale der Modularisierung vorab quantifizieren können.

Hoch entwickelte modulare Produktarchitekturen in anderen Branchen

Dasselbe Denken lässt sich auf viele andere Produktsegmente sowohl bei Industrie- als auch bei Konsumgütern anwenden. So ist zum Beispiel in der Haushaltsgeräteindustrie üblich, verschiedene Gerätetypen als unterschiedliche modulare Systeme zu betrachten. Man würde sagen, dass es ein modulares System für Waschmaschinen und ein separates modulares System für Trockner gibt. Während dies aus funktionaler Sicht sinnvoll ist, gehen wie zuvor beschrieben Synergiepotentiale verloren

Gemeinsames Design und gemeinsame Benutzeroberfläche für alle Produkttypen

Da Waschmaschinen und Wäschetrockner in der Regel in Kombination verwendet werden, ist es üblich, dass Design und die Benutzeroberfläche zueinander passend zu gestalten.

Vom Standpunkt einer übergreifenden modularen Produktarchitektur aus gesehen ist es sinnvoller, die Frontblende und die Benutzeroberfläche als ein gemeinsames modulares System zu betrachten und nicht als Teile, die innerhalb der modularen Waschmaschinen- und Trocknersysteme individuell entwickelt und optimiert werden. Auf diese Weise können Aktualisierungen sowohl des Stylings als auch der Benutzerschnittstelle gleichzeitig in beiden Produktlinien eingeführt werden. Dies entspricht auch den Erwartungen der Kunden, die auf ein einheitliches Aussehen und eine einheitliche Bedienung Wert legen.

Flexible Linienmontage

Ein treibender Faktor in der Hausgeräteindustrie ist es, ebenso wie in der Automobilindustrie, viele Produkte auf den gleichen flexiblen Montagelinien zu produzieren und dabei möglichst effizient zu sein. Der Schlüssel hierfür ist die Harmonisierung der Strukturkonstruktion zwischen verschiedenen Produktplattformen, so dass diese mit gleichen Werkzeigen in der gleichen Reihenfolge auf einer gemeinsamen Montagelinie hergestellt werden können.

In Bezug auf unser Waschmaschine&Trockner-Beispiel bedeutet das, dass eine gemeinsame modulare Produktarchitektur die Produktion auf einer gemeinsamen Montagelinie ermöglichen würde. Weitergehend würde sich auch eine Angleichung von Steuerschnittstellen anbieten, so dass eine gemeinsame Steuerung in einer zukünftigen SmartHome-Plattform vereinfacht wird.

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Erste Schritte zum modularen Baukasten

In diesem Blogbeitrag haben wir Beispiele aus Unternehmen gezeigt, die im Bereich der modularen Produktentwicklung schon weit fortgeschritten sind.

Wir haben gesehen, wie beim Aufbau fortschrittlicher modulare Systeme produktplattformübergreifende modulare Produktarchitekturen als Kombination unabhängiger modularer Baukästen auf Teilsystemebene zusammengesetzt sein können.

Wenn Ihnen bei diesem Satz schon schwindelig wird und Sie wissen wollen, wie es gelingen kann einen erfolgreichen modularen Baukasten für einen ersten Teil Ihres Produktportfolios zu definieren, möchten wir Ihnen unseren Beitrag zur methodischen Definition modularer Produktarchitekturen inkl. Step-by-Step Anleitung empfehlen. In diesem stellen wir Ihnen methodische Ansätze vor, um mit der Definition Ihrer modularen Produktarchitektur zu starten:

Anleitung Produktarchitektur

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Autor
Tobias Martin
Vice President & Partner
tobias.martin@modularmanagement.com
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Ingo_Profil 400*400Ingo Bögemann
Senior Consultant
ingo.bogemann@modularmanagement.com
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